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Die Geschichtsvergessenheit des Benjamin Bidder und der schlimme Vorwurf der Geiselnahme

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Wir können aufatmen, - es ist vollbracht. Der Historiker Heinrich August Winkler (76) erklärt am Freitag, anlässlich einer Feierstunde im deutschen Bundestag zum Kriegsende vor 70 Jahren:
„Die Alliierten haben die Deutschen unter der Erbringung schwerster Opfer sozusagen von sich selbst befreit…“

Winkler stellt damit die Deutschen in eine Reihe mit Franzosen, Polen den Tschechen, Griechen, den Dänen und Norwegern, alle befreit vom Joch der Nazis. Er sollte es besser wissen.

 Mit senen 76 Lebensjahren ist Winkler Zeitzeuge. Was am am frühen Morgen des 7. Mai von Nazigeneral Jodl im Hauptqutier der Alliierten in Reims und am frühen Morgen des 9. Mai im Hauptquatier von General Schukow in Berlin-Karlshorst durch Nazigeneral Keitl unterzeichnete Dokument war nicht mehr und nicht weniger als die bedigungslose Kapitulation, des damit nicht mehr existenten Deutschen Reiches.

 Befreit wurden damals keineswegs die Deutschewn von sich selbst, diesem absurden Gedanken dürfte damals niemand nachgehangen haben, sondern die Welt von deutschem Terror, deutschem Militarismus, von deutscham Großmachtdenken und von deutscher Feigheit.

Die Bundesrepublik Deutschland hat sich nach ihrer Gründung 1949 als Nachfolgestaat des untergegangenen Deutschen Reiches erklärt. Eine wirkliche Aufarbeitung der Nazi-Straftaten und der geschichtlichen Verantwortung des Deutschen Volkes hat es, vielleicht abgesehen von einer kurzen Zeit, Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts, nie gegeben.

 Wie wäre es sonst möglich gewesen, dass ein Mann Ministerpräsident eines der größten Bundesländer werden konnte, der nachweislich bis in die letzten Kriegstage als Richter der Wehrmacht Todesurteile aussprach und vollstrecken lies, gegen sogenannte Fahnenflüchtige und Soldaten, die sich selbst verstümmelten um dem sichweren Tod in einem aussichtslosen Kampf gegen haushoch überlegene Gegner zu entgehen?

 Wie konnte es möglich sein, dass ein Mann zum Bundeskanzler gewählt wurde, der nachweislich vom Februar 1933 bis zum Ende, im Mai 1945 aktives Mitglied der NSDAP war? Ein Mann der höchste Ämter im Aussenministerium, des als Kriegsverbrecher zum Tode verurteilt und hingerichteten Joachim von Ribbentrop.

 Wie konnte es möglich sein, dass ein Mann über zehn Jahre Präsiden,t der noch jungen Bundesrepublik war, der nachweislich unter Albert Speer am Bau von KZ-Baracken beteiligt war, und der als Bauleiter in Peenemünde Zwangsarbeiter beaufsichtigte und diese aktiv anforderte?

 Wie konnte es andersherum sein, dass ein Mann wie der Bundeskanzler Brandt, der als junger Mann vor den Nazis nach Norwegen geflohen war und von dort aus aktiv am Widerstand gegen Hitler teilnahm (Brandt war mehrfach in den Jahren der Naziherrschaft inkognito in Deutschland um unter Lebensgefahr den Widerstand zu organisieren) als Deserteur und Vaterlandsverräter beschimpft wurde.

 Nach dieser kurzen Periode des Antifaschismus und der Aussöhnung vor allem mit den östlichen Nachbarn, Polen un der Tschechoslowakei und einer Normalisierung der Beziehungen zur Sowjetunion, übernahm mit Helmut Schmidt ein ehemaliger Hauptmann der Reichswehr das Bundeskanzleramt. Zur Ehrenrettung Schmidts muss allerdings gesagt werden, dass er nachweislich kein Nazi war.

 Aussprüche, wie die Heinrich August Winklers, haben in jüngster Zeit dazu geführt, dass einer, wenn auch schwachen und teilweise unlauteren Erinnerungskultur, eine Art neuem deutschen Elitedenkens  gefolgt ist. Freigesprochen von der geschichtlichen Verantwortung des Holocaust und der alleinigen Schuld am Ausbruch des zweiten Weltkrieges fühlen sich, vor allen Dingen grüne Politiker und die überwiegende Schar der Journalisten dazu berufen, weltweit Staaten und Regierungen nach Gut und Böse einzuordnen. Diese Einordnung erschöpft sich längst nicht mehr nur auf die reine Artikulation. Sie kann für Menschen, die in Staaten leben, die, um einen Ausspruch George H. Bushs zu verwenden, zu den Schurkenstaaten gezählt werden, durchaus lebensbedrohend sein.

 Im Gegensatz zu früheren Jahrzehnten, in denen man es bei der Kritik angeblicher, oder in der Tat vorhandener Misstände, Diktatur, Missachtung der Menschrechte, in fremden Ländern beliess, sind die Verfechter der reinen Lehre heute durchaus bereit, wie seinerzeit die Kreuzritter, ihre Ansichten mit Feuer und Schwwert durchzusetzen. Das bekamen als erste die Serben zu spüren, als der damalige deutsche Aussenminister, Joschkja Fischer, in vollkommender Umkehr der Tatsachen deren Präsidneten Milosevic mit Hitler verglich und daraus die Berechtigung ableitete einen völkerrechtswidrigen Krieg gegen das kleine Balkanland vom Zaun zu brechen. Für über 2.000 Serben bedeutete das das Todesurteil.

  Winklers Saat geht auf. Die Meinungsmacher rüsten auf. nicht mehr die historische Schuld Deutschlands am Ausbruch des zweiten Weltkrieges, des Terrors und der Schrecken des Krieges steht plötzlich in den Presseartikeln zum siebzigsten Jahrestag der deutschen Kapitulation im Vordergrund. Plötzlich wird eine der Siegermächte, ausgerechnet die Nation mit den meisten Opfern, Russland, an den Pranger gestellt.

 „Die letzten Geiseln des Krieges“
 überschreibt Benjamin Bidder seinen Artikel auf Spiegel-online am 9. Mai. Und er fährt fort:
"In Moskau paradieren polierte Panzer vorbei an Präsident Putin. Der Kreml hat die Erinnerung an den Weltkrieg gekidnappt. Unseren Korrespondenten Benjamin Bidder macht es ratlos, dass russische Freunde den Geiselnehmer für einen Befreier halten."
 Putin, der Geiselnehmer. Angesichts der Verbrechen der deutschen Wehrmacht und der SS während des zweiten Weltkrieges bleibt einem bei dieser Überschrift das Wort im Munde stecken. Wie geschichtsvergessen,  gefühllos gegenüber der Opfer des Naziterrors, wie hasserfüllt Putins und dem gesamten russischen Volk gegenüber und wie verantwortungslos im Angesicht des Wiederaufkommens von Antisemitismus und Neofaschismus in Deutschland muss ein Journalist sein, um solche Zeilen zu schreiben und skrupellos eine Redaktion, diese auch noch zu veröffentlichen.

 Bidder verhöhnt die Opfer der tschechischen Stadt Lidicd.

 Nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich, des, damals so bezeichneten, Reichsprotektors von Böhmen und Mähren, umstellten am 9. Juni 1942 deutsche Polizeikräfte, Angehörige der Gestapo und des SD unter Kommando von SS-Offizieren die tschechische Gemeinde Lidice. Alle Einwohner des Ortes waren Geiseln der SS. Am nächsten Morgen wurden alle 172 Männer, die älter waren als 15 Jahre, erschossen. 195 Frauen wurden in das Konzentrationslager nach Ravensbrück deportiert. 52 von ihnen wurden dort ermordet. Die 98 Kinder des Ortes wurden nach Litzmannstadt verschleppt und dort nach rassischen Gesichtspunkten getrennt. 13 von ihnen wurden "germanisiert, die restlichen 85 ins Vernichtungslager Kulmhof deportiert und dort vergast. Die Gebäude von Lidice wurden gesprengt und verbrannt. Das ganze Areal des Ortes wurde eingeebnet. Lidice war von der Landkarte verschwunden.

 Und Bidder verhöhnt die Einwohner des damaligen Leningrad, des heutigen St. Petersburg. Vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944 wurde die Millionenstadt von der deutschen Wehrmacht von jeglicher Versorgung abgeschnitten. Im Laufe der 900-tägigen Geiselnahme der 3 Millionen Einwohner der Stadt, kamen 1,5 Millionen Menschen ums Leben. Sie verhungerten. Dabei hatten Hitler und seine Generäle niemals vor die Stadt zu erobern. Von Anfang an war das Ziel Leningrad auszuhungern und die Stadt dann dem Erdboden gleich zu machen. Das Leid der Menschen war unbeschreiblich. Sie rissen Tapeten von den Wänden und kratzten den Kleister ab um ihn zu essen. Sie verzehrten Ratten und Mäuse. Pferde, die vor Erschöpfung auf den Strassen zusammenbrachen wurden an Ort und Stelle zerlegt, und in ihrer Verzweiflung begingen einige Menschen Kannibalismus.

 Nur zwei, vielleicht die schlimmsten Geiselnahmen im zweiten Weltkrieg, begangen von deutschen Besatzern. Man könnte die Reihe fast unendlich lang fortsetzen, in Italien, in Griechenland, Serbien, Polen.

 Heute siebzig Jahre nach Ende dieses Massakers stellt ein nassforsches Bürschchen, ein von sich selbst Befreiter, sich hin und verdreht eben mal die Rollen der Täter und der Opfer. Bidder bezeichnet Putin als den Geiselnehmer.

 Aber sein Hass richtet sich schon lange nicht mehr allein gegen Putin. Für ihn ist das gesamte russische Volk eine Ansammlung von Verbrechern.
"Es macht mich ratlos, dass auch unter langjährigen russischen Freunden viele den Geiselnehmer für einen Befreier halten."
 Über das Sankt-Georgs-Band, ein Zeichen des Sieges der Roten Armee über Hitlerdeutschland, aber auch ein Zeichen der eigenen Identität und der Verbundenheit der Russen untereinander, schreibt er:
"Das Band wurde 2005 das erste Mal in Moskau verteilt, von der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti und der Kreml-Jugend "Naschi - Die Unsrigen", die sich auf die Fahne geschrieben hatte, Massenproteste wie in der Ukraine während der Revolution in Orange zu verhindern."
Er erweckt ganz bewusst den Eindruck, als sei das Sankt-Georgs-Band ein Teil der Propaganda der russischen Führung:
"Heute wirkt das Georgsband wie ein Zeichen der Gleichheit. Es verbindet und soll Legitimation ableiten vom Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitler damals für Russlands schmutzige Feldzüge heute. Die Kreml-Medien kreischen deshalb von der angeblich "faschistischen Junta" in Kiew, wie sie zuvor schon in Georgiens damaligem Präsidenten Saakaschwili einen Widergänger Hitlers erkannt haben wollten."
 Für Bidder ergibt sich die Frage, und jetzt nimmt er ein ganzes Volk in Geiselhaft:
"Wie soll man nur umgehen mit diesem Russland, das aus der großartigen Tapferkeit in der Vergangenheit mitunter das Recht auf heutige Niederträchtigkeiten ableitet?"
 Ja, wie soll man umgehen mit einem niederträchtigen Volk? Wie ist man umgegangen mit Libyen, dem Irak, Somalia, Afghanistan, mit Serbien und Syrien?

 Dabei ging es in diesen Fällen nur um die Beseitigung ein unliebsamen Führung. Im Falle Russlands hilft da wohl nur die Beseitigung des gesamten Volkes.

 Siebzig Jahre nach der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands will von der Verantwortung der Deutschen für diese größte Katastrophe der Menschheit niemand mehr etwas wissen. Wir, die wir uns gern auf die Großen unserer Vergangenheit berufen, auf Dichter wie Goethe, Schiller, Kleist, auf Komponisten wie Bach, Mozart, Beethoven, auf Maler wie Dürer oder Wissenschaftler wie Kopernikus, wir blenden die dunkle Seite unserer Geschichte aus, wir sind von uns befreit. Und daraus leiten schon wieder gewissenlose, skrupellose Hetzer wie Benjamin Bidder das Recht ab, über andere Völker zu richten.

 Dort wo es angebracht wäre, einmal in Demut einfach zu schweigen, herrscht bereits wieder das Prinzip: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!

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