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Paris: Der Krieg ist zurück in Europa

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 Um es vorweg zu sagen: Meine ungeteilte Anteilnahme gilt den Opfern, den 128 Toten, den fast 200 Verletzten und den unzählbaren Angehörigen der Opfer der Terroranschläge von Paris. Kein politisches Ziel, keine Ideologie ist es Wert, dass dafür Menschen ihr Leben lassen müssen. Jedes Menschleben, dass durch Gewalt ausgelöscht wird, ist ein Menschenleben zu viel.

 Aber haben wir wirklich geglaubt, die Saat der Gewalt, die nun schon seit Jahren ausgebracht wird, würde ausgerechnet hier bei uns in Europa nicht eines Tages aufgehen? Haben wir geglaubt, dass in einer Zeit, in der Jedermann, der genug Geld und genug kriminelle Energie besitzt, um Waffen zu kaufen und um Menschen zu radikalisieren, in einer Zeit, in der mehr Kriege gleichzeitig geführt werden wie nie zuvor, in einer Zeit in der die Güter der Welt ungleicher verteilt sind als je zuvor, wir weiter leben können auf einer Insel der Seeligen?

 Haben wir wirklich geglaubt, wir könnten auf Dauer die Resourcen der ganzen Welt als unser Eigentum betrachten, Urwälder roden um darauf Vieh zu züchten, damit wir täglich Fleisch essen können, die Weltmeere leerfischen, die Böden veröden, das Klima dermassen stören, dass breite Landschaften der Erde zur Wüste werden? Haben wir wirklich geglaubt, das wir die ganze Welt nach unseren Vorstellungen gestalten können, die sozialen Gefüge zerstören, die Menschen entwurzeln, ihnen unsere Wertvorstellungen aufzwingen?

 Hunderte von Jahren haben wir gebraucht, um uns von Unterdrückung und Despotie zu befreien. Von den Völkern der dritten Welt verlangen wir, dass sie diese Entwicklung in 20 - 50 Jahren schaffen. Standards, die wir heute an alle Gesellschaften dieser Erde anlegen sind auch bei uns teilweise noch keine hundert Jahre alt.
  • Der Paragraph 175, der Homosexualität grundsätzlich unter Strafe stellte wurde in der Bundesrepublik Deutschland erst im Jahre 1994 ersatzlos aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Noch 1962 begründete die Regierung Adenauer einen Gesetzentwurf den § 175 STGB:
"[…] Ausgeprägter als in anderen Bereichen hat die Rechtsordnung gegenüber der männlichen Homosexualität die Aufgabe, durch die sittenbildende Kraft des Strafgesetzes einen Damm gegen die Ausbreitung eines lasterhaften Treibens zu errichten, das, wenn es um sich griffe, eine schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung im Volke bedeuten würde.“
         Heute 53 Jahre später verlangen wir von allen Gesellschaften, von allen Kulturen, dass sie
         unsere Einstellung zur Homosexualität teilen.
  • Auch die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist noch nicht so lange eingeführt wie man glauben mag. Als letztes Land in Europa führte1971 die Schweiz das aktive und passive Wahlrecht für Frauen ein. In Deutschland wurde nach dem verlorenen ersten Weltkrieg das Frauenwahlrecht eingeführt. Noch in den fünfziger Jahren mussten Ehefrauen ihre Männer um Erlaubnis fragen, wenn sie ein Arbeitsstelle antreten wollten.
  • Gewalt gegenüber Kindern als Erziehungsmethode war noch bis weit in die sechziger Jahre gesellschaftsfähig. 
  • Die Todesstrafe wurde erst nach und nach in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg in den Ländern Europas abgeschafft. Die letzte zivile Hinrichtung in der BRD fand am 18. Februar 1949 statt. In der DDR wurde der Hauptmann Werner Teske am 26. Juni 1981 als letztes Opfer der Todesstrafe hingerichtet.
Vergessen wir nicht die Barberei der Nazizeit, die zu Millionen Toten führte. Aber vergessen wir auch nicht die Barberei der Kolonialmächte im 19. und 20. Jahrhundert. Heute sprechen wir hochtrabend von den Europäischen Werten, die es zu verteidigen gelte.

 Dabei kann man wohl kaum von Verteidigung sprechen. Vielmehr führen wir jetzt seit Jahrzehnten einen Angriffskrieg gegen die Länder der dritten Welt. Nicht Vietnam hat die USA überfallen und mit einem Bombenteppich überzogen, nicht Afghanische Truppen haben erst Russland und dann die USA besetzt, nicht der Irak, nicht Libyen, nicht Somalia, Palästina, Sudan, Mali, Elfenbeinküste sind an Europas Küsten gelandet und haben die Menschen hier in Angst und Schrecken versetzt, haben ihre Arbeitsplätze zerstört, ihre Kinder getötet und ihre Frauen vergewaltigt. Wir sind eingefallen in diese Länder, teilweise unter fadenscheinigen Begründungen.

 Libyen hat seine Staatlichkeit verloren, weil wir, Kreuzzüglern gleich, die Menschen angeblich von ihrem Diktator befreien wollten. Der Irak versinkt seit 2003 im Terror, weil das Land angeblich einer Achse des Bösen angehörte. Der Südsudan wurde unter Androhung von Gewalt aus dem Sudan herausgelöst; seitdem herrscht dort ein unglaublich grausamer Bürgerkrieg. Syrien sollte von seinem Diktator Assad befreit werden, obwohl nachweislich der grösste Teil der Bevölkerung für ihn war. Die Liste der westlichen Schandtaten lässt sich praktisch unendlich fortschreiben.

 Haben wir also wirklich ernsthaft geglaubt, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen auf diesem Globus sich auf Dauer klaglos der westlichen Hegemonie beugen würde? Viel wahrscheinlicher ist doch wohl, dass der Krieg, den wir in andere Länder getragen haben, irgendwann zu uns zurückkommt. Nun ist er da und wir werden ihn so lange nicht mehr loswerden, bis wir begreifen, dass nicht wir allein bestimmen können, wie die Menschen auf unserer Erde zu leben haben.

 Dieser Krieg wird nicht enden bevor wir begreifen, dass wir alle Völker dieser Erde als gleichberechtigt und gleichwetig anerkennen müssen. Dieser Krieg wird nicht zu Ende gehen, bis wir unsere Truppen, unsere Bomber und Kriegsschiffe zurückziehen aus den Ländern der dritten Welt. Und er wird nicht enden, bevor wir nicht aufhören für uns ein Haus mit mehreren Bädern zu fordern, einen Swimmingpool und bis wir nicht aufhören Unmengen von Wasser zu vergeuden für die Erzeugung und Herstellung unserer Lebensmittel, während in der dritten Welt Kinder sterben, weil sie kein sauberes Trinkwasser bekommen.

 Wir werden begreifen müssen, dass Gewalt immer nur wieder Gewalt gebirt. Wir sollten endlich Frieden schliessen mit der Welt. Dass heisst nicht, dass wir nicht wehrhaft sein sollen, aber auf unserem Boden, in unseren Ländern, nicht im Irak, in Syrien, in Afghanistan.  Unsere Freiheit wird eben nicht am Hindukusch verteidigt sondern verloren. Und wir werden begreifen müssen, dass Terrorismus nicht aus dem Nichts entsteht sondern eine Sache von Aktion und Reaktion ist.

 Allein die Reaktionen der Politiker auf die Anschläge von Paris lässt mich nichts Gutes erahnen. Sie scheinen das Rad der Gewalt und Gegengewalt weiterdrehen zu wollen. So spricht aus den Worten des französichem Staatspräsidenten Francoise Hollande ausschliesslich der Gedanke der Rache, der Vergeltung, die ausgeübt werden soll nicht nur in den Grenzen Frankreichs:
"Weil Frankreich feige, beschämend und gewaltsam angegriffen wurde, wird es gnadenlos sein gegenüber den Barbaren des Islamischen Staates. Wir werden mit allen Mitteln, aber im Rahmen des Rechtes reagieren, auf allen Gebieten, innerhalb und ausserhalb des Landes und in Absprache mit unseren Alliierten, die ebenso im Visier sind."
 Auch die Worte Merkels lassen wenig Hoffnung auf eine nachdenkliche Reaktion auf die Anschläge in Paris. Viel mehr ähneln sie frappierend den Worten des damaligen Kanzlers Schröder nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 in New York, der den USA uneingeschränkte Solidarität zubilligte:
"Dieser Angriff auf die Freiheit gilt nicht nur Paris. Er meint uns alle und er trifft uns alle und deswegen werden wir auch alle gemeinsam die Antwort geben."
Danach kam Afghanistan, der Irakkrieg, Al Quaida, die Terroranschläge von London und Madrid und bei uns die Einschränkung vieler Grundrechte.

 Bundespräsident Gauck sah einmal mehr die Zeit gekommen, den Deutschen klar zu machen, dass sie die Komfortzone nun verlassen müssten:
"Wir Deutsche trauern mit den Familien der Getöteten, wir trauern mit Frankreich. Aber zugleich muss uns bewusst werden: Aus unserem Zorn über die Mörder müssen Entschlossenheit und Verteidigungsbereitschaft werden."
 Vielleicht ist es ja auch zu viel verlangt im Angesicht des Terrors in Paris einmal eine emotionslose Analyse des eigenen Handelns zu erstellen. Aber es hilft niemanden weiter, wenn wir jetzt die nächste Umdrehung an der Schraube der Gewalt vollziehen. Es macht keines der Opfer wieder lebendig, sondern produziert nur neue Opfer. Wir sollten jetzt nicht über Rache nachdenken, sondern darüber, welche Möglichkeiten uns bleiben, in Zusammenarbeit mit allen Nationen der Erde eine bessere, friedlichere Welt zu bauen. Machen wir uns nichts vor, wenn wir diese friedliche Welt wirklich wollen, dann ist es zu allererst an uns, zurückzustecken und die Hand zur Versöhnung auszustrecken.

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